Das Kiefergelenk hat eine sehr enge Lagebeziehung zum Gehörgang. Patienten berichten dass, nach einer erfolgreichen Kiefergelenks-Behandlung die Ohrgeräusche verschwunden sind.
Tinnitus und Ohrgeräusche sollten interdisziplinär behandelt werden.
Phantom im Ohr
#12Menschen mit einem Tinnitus hören Töne, die es physisch gar nicht gibt. Abhilfe schaffen könnte eine Methode, die auch gegen Migräne angewandt wird: das Neurofeedback.
Dienstag 27. August 2019 12:05
von Annette Wirthlin

Die Abklärung kann sich hinziehen: Um andere Erkrankungen und Symptome als einen Tinnitus auszuschliessen, führt ein Facharzt Untersuchungen durch. Foto: Mauritius Images
Wie das Pfeifen eines Wasserkochers. Oder das Summen einer Mücke, nur höher und viel lauter. So beschreibt Sven Buchli* den Ton, der sich eines schönen Sommertages vor zwei Jahren aus dem Nichts heraus in seinem Ohr festsetzte. «Ich sass zu Hause im Garten, und plötzlich war er da. Penetrant. Alles übertönend», erinnert sich der Programmleiter einer Grossbank. «Es war nicht schmerzhaft, aber ich fühlte mich dem Geräusch komplett ausgeliefert.» Alles andere hörte er wie durch Watte. Sven Buchli hatte Angst und fragte sich: «Was stimmt nicht mit mir?»
Der 38-Jährige leidet an einem chronischen Tinnitus. Das ist eine Störung der Hörfunktion, bei der Betroffene in einem oder beiden Ohren ein Geräusch wahrnehmen, das nicht von einer äusseren Schallquelle ausgeht. Experten sprechen auch von «Phantomwahrnehmung». Dafür verantwortlich ist eine fehlerhafte Verarbeitung der Informationen im Hörzentrum des Gehirns (siehe Box unten).
«Ich habe vieles probiert im Kampf gegen den Tyrannen in meinem Ohr.»Sven Buchli, Patient
«Ursache eines Tinnitus sind meist geschädigte Haarzellen im Innenohr, ausgelöst beispielsweise durch einen Hörsturz, ein Schädeltrauma, einen Mittelohrinfekt oder eine grosse Lärmbelastung», sagt der Tinnitus-Experte Tobias Kleinjung vom Universitätsspital Zürich. Letzteres war auch bei Sven Buchli der Fall: Ein halbes Jahr vor dem Ereignis im Garten hatte er ein lautes Rockkonzert besucht. Manchmal treten Ohrgeräusche aber auch einfach in stressigen Lebensphasen oder ohne speziellen Grund auf.
Das Gehirn lernt neue Muster
«Ich habe vieles probiert im Kampf gegen den Tyrannen in meinem Ohr», sagt Sven Buchli zwei Jahre später in der Küche seiner Zürcher Wohnung. «Einiges davon hat geholfen, vieles nicht.» Seinen jüngsten Versuch, auf den er viel Hoffnung setzt, macht er derzeit im Rahmen eines Pilotprojekts des Unispitals Zürich und der psychiatrischen Privatklinik Hohenegg mit einer Methode namens Neurofeedback. Dabei beobachtet der Patient auf einem Monitor ein Raumschiff, das durch einen Tunnel fliegt. Auf dem Kopf trägt er eine Haube mit Elektroden, die seine Hirnströme messen. Tun muss er dabei nichts – ausser sich auf das Geschehen auf dem Bildschirm zu konzentrieren.
So entsteht ein Tinnitus

Wenn einzelne Sinneszellen (sogenannte Haarzellen) in der Hörschnecke im Innenohr etwa aufgrund einer grossen Lärmbelastung absterben, entsteht in den betreffenden Frequenzen ein Hörverlust. Die Nervenzellen im Hörzentrum des Gehirns erhalten nun weniger elektrische Impulse. Das Hörzentrum im Gehirn versucht, dies zu kompensieren, indem es in eine Daueraktivität verfällt. Diese bleibt auch bestehen, wenn nichts zu hören ist. Bei Tinnitus-Patienten kann man dies experimentell messen. Weil sich auch andere Hirnareale, die etwa für die Aufmerksamkeitssteuerung, Stress oder das Gedächtnis zuständig sind, mit der Überaktivität zu verbinden beginnen, nimmt der Betroffene einen störenden Ton wahr. Würde man seinen Hörnerv durchtrennen, wäre er taub, das Ohrgeräusch würde jedoch bestehen bleiben. Illustration: Axel Kock
«Die Forscher versuchen mit dieser Methode, meine Gehirnwellen umzuprogrammieren und sie dem Muster eines Menschen ohne Tinnitus anzugleichen.» Wenn Sven Buchli die abstrakte Therapie erklärt, klingt er selber wie ein Experte: «Ist die Gehirnaktivität gut, belohnt einen der Computer mit einem schön fliegenden Raumschiff. Zeigen sich hingegen unerwünschte, typische Tinnitus-Muster, stockt das Flugobjekt, steuert in die Tunnelwand, und das Bild wird wolkig.»
Training macht den Tinnitus leiser
Neurofeedback ist ein Gehirntraining, das nicht willentlich gesteuert werden kann. Hals-Nasen-Ohren-Arzt Tobias Kleinjung, der an dem Projekt beteiligt ist, sagt: «Wir wissen nicht, wie es der Einzelne – oder besser sein Gehirn – schafft, das Computerspiel immer besser zu lenken.» Doch ein Trainingseffekt stellt sich ein – und damit oft eine Abschwächung des Tinnitus. «Wir wollen herausfinden, ob sich die Methode, die zum Beispiel bei Migräne recht anerkannt ist, für Tinnitus-Patienten gleichermassen eignet», sagt Tobias Kleinjung. Sven Buchli jedenfalls tun die 20-minütigen Sitzungen gut. «Ich werde dabei ruhig, und der Tinnitus wird tatsächlich für eine gewisse Zeit danach leiser», sagt er. Das sehen die Forscher auch seiner Hirnstromkurve an.

Beim Neurofeedback steuern Hirnaktivitäten eines Tinnitus-Betroffenen ein Raumschiff auf einem Bildschirm: So soll das Hirn lernen, seine Ressourcen besser zu nutzen und damit die Belastungen durch den Tinnitus zu senken. Foto: Ursula Meisser
Experten schätzen, dass 5 bis 15 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal im Leben an einem länger anhaltenden Tinnitus leiden. Dass es keine genaueren Zahlen gibt, liegt daran, dass längst nicht jeder Betroffene einen Arzt aufsucht. «Der individuelle Leidensdruck ist sehr unterschiedlich», sagt Tobias Kleinjung. Dabei kommt es nicht auf die Lautstärke des wahrgenommenen Tons an: «Der eine fühlt sich durch einen kaum wahrnehmbaren Ton massiv gestört, der andere lebt mit relativ lautem Ohrgeräusch ganz gut.»
Sven Buchlis Leidensdruck war gross. Zwei Tage und zwei schlaflose Nächte nach seinem Hörsturz liess er sein Gehör in der Tinnitus-Sprechstunde am Unispital Zürich überprüfen. Zuerst geht es für den Hals-Nasen-Ohren-Arzt immer darum, «die Ursache eines allfälligen Hörverlusts zu finden und diesen dann, wenn möglich, durch Medikamente, ein Hörgerät oder eine OP zu verbessern», sagt Tobias Kleinjung. Der Arzt diagnostizierte bei Sven Buchli einen Gehörsturz und verschrieb ihm Kortison. Worauf sich dessen Gehör in kurzer Zeit erholte. Doch das nervenaufreibende Summen im Ohr blieb. Es liess sich weder mit Musik noch durch die Wellengeräusche-App auf dem Smartphone überdecken. Auch der Zimmerbrunnen, der oft zur akustischen Ablenkung empfohlen wird, half nichts. Einzig das Rauschen des Wassers beim Duschen gab dem Geplagten wenigstens für kurze Momente Ruhe. Auf der Strasse ging der Tinnitus nicht im Umgebungslärm unter, sondern wurde noch lauter. Er dominierte seine Arbeit, jedes Gespräch und zog ihn zusehends in eine Negativspirale. «Ich war frustriert und ständig am Rande einer Depression», erinnert sich Sven Buchli zwei Jahre später beim Gespräch in seiner Küche.
Ein Allheilmittel gibt es nicht
Tobias Kleinjung verschrieb ihm eine Physio- und eine Psychotherapie. Das eine, um die stressbedingten Verspannungen zu lösen, das andere, um Tipps für den Umgang mit dem Tinnitus im Alltag zu erhalten. Beides half in Grenzen. «In meiner Verzweiflung probierte ich zusätzlich alles, was ich im Internet zu Tinnitus finden konnte», sagt Sven Buchli: «Craniosacral-Therapie, Akupunktur, radikale Fastenkuren, Sport.» Seine Ernährung richtete er auf Nährstoffe aus, die die Nerven und damit möglicherweise den Tinnitus beruhigen: Vitamin B3, B6, B12, D, Magnesium. Alkohol und Zucker liess er fast ganz weg, weil sie eher nervös machen. Als einstiger Partylöwe und Workaholic trat er zugunsten seiner Gesundheit bei der Arbeit kürzer. Sven Buchli begann zu meditieren und lernte Achtsamkeits-techniken. «Dabei geht es darum, aus dem Gedankenkarussell rund um den Tinnitus auszusteigen», sagt er. «Je mehr Bedeutung man ihm gibt, desto mehr verfestigt er sich.»
«Wie stark jemand unter einem Tinnitus leidet, ist individuell verschieden.»Tobias Kleinjung, Hals-Nasen-Ohren-Arzt
Das bestätigt auch Tobias Kleinjung: «Das Einzige, was eigentlich immer nützt, sind Strategien für den besseren Umgang mit dem Störenfried.» Ein Allheilmittel für Tinnitus gibt es bis heute nicht. Es existieren zwar diverse innovative Therapieverfahren (siehe unten), die überwiegend in Studien angewandt werden. Deren Wirksamkeit ist aber umstritten, weil eindeutige wissenschaftliche Beweise bisher fehlen. So hat auch das Neurofeedback, mit dem Sven Buchli gute Erfahrungen macht, noch experimentellen Charakter. «Eine Methode zur Bestimmung, wer potenziell auf die Behandlung anspricht, fehlt derzeit», sagt Tobias Kleinjung. Auch stehe in den Sternen, wie viele Sitzungen nötig seien. Von der Krankenkasse wird die Therapie deshalb noch nicht finanziert. Den Begriff «Heilung» mag Tobias Kleinjung im Zusammenhang mit Tinnitus nicht, «denn das hiesse ja, dass kein Ohrgeräusch mehr vorhanden ist». Dies einem Patienten zu versprechen, sei unseriös, obwohl ein Tinnitus manchmal durchaus für immer verschwinden könne. Der Arzt betrachtet eine Person dann als erfolgreich behandelt, wenn sie keine Einschränkungen im Alltag mehr erlebt.
Sven Buchli hat sich heute gut mit dem Tinnitus arrangiert. «Wenn ich auf ihn achte, ist er zwar noch da, aber er ist unwichtiger geworden», sagt er. «Ich kann wieder fast ungestört arbeiten, telefonieren, Hörbücher geniessen und überhaupt: ein normales Leben führen.» Wie auf ein Stichwort erklingt aus dem Wohnzimmer Babygeschrei. Sven Buchli schmunzelt. Er ist vor wenigen Wochen Vater geworden.
Der Tyrann wurde zum Begleiter
In den Augen von Tobias Kleinjung wäre die revolutionärste Tinnitus-Therapie eine, die die geschädigten Haarzellen irgendwie reparieren kann. «Doch davon ist die Forschung noch meilenweit entfernt.» Sven Buchli würde dieses Wundermittel sofort einnehmen, wenn es denn existierte. Vorerst begnügt er sich mit der Erkenntnis, «dass ich nicht den Tinnitus, aber sehr wohl meine Art, darüber zu denken, beeinflussen kann».